Rustikal und ursprünglich:

Der idyllische Lieper Winkel ist ein wenig bekanntes Kleinod an der Ostsee. Die Halbinsel zwischen Achterwasser und Peenestrom ist etwas für Entdecker - auf sie warten reichlich Natur, absolute Stille und viel Fisch.

SPIEGEL ONLINE - 27.04.2013
Das also ist der Gipfel. Er heißt Jungfernberg und besitzt alles, was einem Höhepunkt gebührt: einen ausgeschilderten Weg aufwärts, eine Bank zum Verschnaufen und sogar ein Gipfelbuch, verborgen in einer kleinen Blechkiste hinter der Rückenlehne. Dort kann jeder in den Eintragungen seiner Vorgänger schmökern. Die reichen vom knappen "Geile Sache! Super Aussicht" bis zum Zitat "Geh aus, mein Herz, und suche Freud..." nebst diverser selbst gestrickter Lyrik.

Der Jungfernberg also. 18 Meter guckt er über den Meeresspiegel und ist damit die höchste Erhebung im Lieper Winkel. Dieser wiederum ist eine Halbinsel, die pilzförmig zwischen Achterwasser und Peenestrom in die Boddengewässer hinter der Insel Usedom hineinwächst. Wer das Binnenland auf der B 110 über die Zecheriner Brücke gen Usedom verlässt und schnurstracks in die Kaiserbäder fährt, lässt den Lieper Winkel sozusagen links liegen. Ob das richtig oder falsch ist, hängt davon ab, wie man sich seinen Küstenurlaub vorstellt. Faustregel: Wem der coole Cocktail an der Promenade besser schmeckt als das kühle Bier vor der Dorfkneipe, der ist im Lieper Winkel verkehrt.

Die Reize des Lieper Winkels überblickt man vom Jungfernberg aus: Ringsherum ist Wasser - fast ringsherum, man ist ja auf einer Halbinsel. Zwar hat die sich einen breiten Schilfsaum wachsen lassen, aber hier und da haben die Bewohner Breschen ins Grünzeug geschlagen. Zum Beispiel in Warthe, wo Fischer Peter Wolf sein Boot liegen hat - das heißt: eines seiner Boote, das, mit dem "Vadder" Rudolf die Reusen im Achterwasser leert.

Bitte nicht jammern!

Peter selbst fischt meist im offenen Meer, und manchmal nimmt er sogar Gäste mit auf den Kutter. "Die gucke ich mir aber vorher genau an", sagt er, "nicht, dass sie unterwegs anfangen zu jammern." Unabhängig davon: Wer in einer von Wolfs beiden Ferienwohnungen wohnt, hat eine Fisch-Flatrate, garantiert fangfrisch.

Ein paar Buchten weiter findet sich in Warthe auch ein kleines Hafenbecken, in dem eine Handvoll Boote und ein Wassertreter vor sich hindösen. Wer das Achterwasser erobern möchte, der macht einfach die Leine los und schippert davon. Neben den Namen des Gefährts ist der Preis an die Bordwand gepinselt. Fünf Euro die Stunde. Am Wassertreter ist über die Sechs irgendwann mal eine Acht gekritzelt worden. Die Miete steckt man am Ende des Törns in eine betagte Kassette, die als Kasse des Vertrauens am Tor festgeschraubt wurde.

Wer nicht in See stechen möchte, genießt im Hafen die Frühlingssonne; Strandkörbe und ein Dutzend bunt zusammengewürfelter Bänke laden als Multi-Kulti-Sitzgruppen dazu ein. Idyllische Unperfektheit. Stehengebliebene Zeit. Und absolute Stille. Das ist der Lieper Winkel.

In Rankwitz fällt das Landhotel "Lieper Winkel" ins Auge: brauner Backstein, weißes Holz, zum Hof hin ein moderner Anbau, alles Ferienwohnungen. Dort hantiert Karl-Heinz Treckmann, kritisch beäugt von seinem Hund Sam. Treckmann verwaltet für eine Immobilienfirma rund zwei Dutzend nagelneuer Unterkünfte, nennt sich "Mädchen für alles" und fungiert als eine Art Mittelding zwischen Hausmeister und Hoteldirektor. Jetzt, in der Vorsaison, hat er auch Zeit für ein Schwätzchen.

Zeit für ein Schwätzchen

Der Zugereiste hatte sich, um bei den Küstenmenschen Anschluss zu finden, als Erstes bei der Freiwilligen Feuerwehr angemeldet. Inzwischen kennt er offenbar jeden Einheimischen auf der Halbinsel. Und so weiß er zu empfehlen, wo man hingehen und wen man unbedingt kennenlernen muss: Zum Beispiel in den Tante-Emma-Laden an der Eiche, wo "Püppi" - alias Gudrun Oberländer - von Erdbeerkonfitüre aus der Küche der Nachbarin, über gelesene Liebesromane bis zu frischen Brötchen alles feilbietet, was der Mensch so braucht.

Zum Pilzeessen schickt Treckmann seine Gäste auf die andere Straßenseite in den Gasthof Rankwitz, zum Fischschmaus in den "Alten Kahn" nach Warthe. Souvenirs, so rät er, sollte man in der Keramikwerkstatt Dannegger in Morgenitz kaufen.

Selbst wenn das Wetter kühl und stürmisch ist, gibt es im Lieper Winkel Ziele für kleine Ausflüge: Die gewaltige Suckower Eiche zum Beispiel, die bereits 1298 als Landmarke erwähnt wurde, und die noch heute, inzwischen mit einem knorrigen abgestorbenen Drittel, am Halbinsel-Eingang wacht. Oder die Kirchlein mit ihren rund ums Jahr geöffnete Türen. Zum Gotteshaus von Liepe führt ein von alten Linden überdachter Weg.

Ein paar Touristen lehnen ihre Räder an die Friedhofsmauer und treten durch die offenstehende Tür des Kirchleins. Einer liest vor: "Die Kirche in Liepe - ein turmloser Bau - wird 1216 erstmalig erwähnt. Sie ist damit die erste bezeugte Dorfkirche der Insel..." Erstaunlich viel, womit man sich in der Stille des Lieper Winkels eine lange Weile beschäftigen kann. Ohne Langeweile.

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